Wie (un-)politisch ist Musikwissenschaft?

Der folgende Text basiert auf einem Impulsreferat, das ich im März 2019 anlässlich eines gleichnamigen Workshops der FG-Nachwuchsperspektiven an der Humboldt-Universität in Berlin hielt.

Wie (un-)politisch ist Musikwissenschaft?

Ausgangspunkt für meine Initiative zu unserem Projekt war die Kurznachricht einer engen Freundin. Sie wies mich auf einen Artikel über Prof. Dr. Hans Neuhoff hin, seines Zeichens Professor für Musikethnologie an der HfMT in Köln und damals frisch gebackenes AfD-Mitglied. Meine erste Reaktion war Entsetzen: Wie kann ein Professor für Musikwissenschaft, noch dazu ein Musikethnologe und Spezialist für Musik in Afrika, Teil jener rechtsextremen Partei sein? In der Rückschau bin ich über meine eigene Naivität überrascht, denn die AfD wurde schließlich als Professorenpartei gegründet. Warum sollte ausgerechnet die Musikwissenschaft frei von rechten Tendenzen sein? Bis zu einem gewissen Grad hatten wir uns damit sogar schon abgefunden. Es dürfte die Wenigsten überraschen, dass Klaus Miehling, der Autor der berühmt berüchtigten Bücher zur „Gewaltmusik“, nicht nur Autor von flüchtlingsfeindlichen Artikeln, sondern auch Mitunterzeichner der migrationskritischen Erklärung 2018 ist. Mein Entsetzen verschwand, das ungute Gefühl blieb.

In den Feuilletons der Republik wird schon seit längerem über die Rolle der Wissenschaft in den aktuellen gesellschaftlichen Debatten geschrieben. Die Rede vom „Tod des Intellektuellen“ oder von der „Krise der Klugen“ führt uns plastisch vor Augen, wie Geisteswissenschaftler*innen von Außen wahrgenommen werden. Freilich zielt diese Kritik erst einmal nicht auf Musik- oder Kunstwissenschaftler, sondern auf die Vertreterinnen und Vertreter der großen Disziplinen – auf die Geschichte, Soziologie, oder die Sprachwissenschaften. Auch die Innenansicht ist wenig schmeichelhaft: Wenn etwa Hans Ulrich Gumbrecht über das „Geräuschlose Verschwinden der Intellektuellen“ rätselt, oder Armin Nassehi seine Kolleginnen und Kollegen in der Soziologie dazu aufruft „Seid wieder Spielverderber“, dann zeugt das zumindest von Problembewusstsein innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Der Historikertag, der 2018 in Münster stattfand, bemühte sich darum, klare politische Kante zu zeigen. In der Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie nimmt der Interessensverband der deutschen HistorikerInnen entschieden Stellung zu verschiedenen politischen Themenkomplexen. Aufgrund der (Zitat) „maßlosen Angriffe auf die demokratischen Institutionen“ sieht man „die Grundlagen der politischen Ordnung“ gefährdet. Gefordert wird nicht nur eine historisch sensible und nichtdiskriminierende Sprache sowie ein Einstehen gegen Populismus, sondern es erfolgt auch eine explizit proeuropäische und migrationsfreundliche Positionierung. Die Resolution wurde einhellig als Frontalangriff auf die AfD aufgefasst und sorgte für heftige Auseinandersetzungen. Aus meiner Sicht ist die Resolution des Historikertags für ähnliche Diskussionen im Fach Musikwissenschaft ein absoluter Glücksfall – nicht etwa, weil sie für besonders gelungen halte. Ich glaube vielmehr, dass die Diskussion, die sich im Nachgang am Papier entzündet hat, sehr instruktiv ist, wenn es darum geht, zu beurteilen, wie die Stimmungslage an Universitäten und in Wissenschafts­redaktionen gerade gelagert ist. In der Debatte zeichnen sich Bruchlinien ab, die auch in der Musikwissenschaft einschlägig sein dürften.

Musikwissenschaft ist eine enorm vielfältige Disziplin. So gibt es in den Subdisziplinen, aber auch in den verschiedenen regionalen Musikwissenschaftskulturen stark unterschiedliche Politisierungs­grade. Gerade im angelsächsischen Raum, in dem der sogenannte „cultural turn“ schon früh vollzogen wurde, dürfte eine vergleichsweise politische Fachkultur durch den politischen Rechtsruck und den Brexit noch einmal dynamisiert worden sein. Immer wieder äußern sich Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler gerade in den Vereinigten Staaten auf Blogs, Twitter, Facebook, aber auch in traditionellen Publikationsformaten zu tagespolitischen Themen. Das gilt umso mehr, wenn Sie in den Bereichen Musikethnologie, Popmusikforschung oder in der Zeitgenössischen Musik tätig sind. Bereits 1993 prägte der Musikethnologe Philip Bohlmann im Journal of Musicology die Rede über „Musicology as politcial act“. Bezüglich des Bewusstseins des eigenen Politischseins scheint in der Musikethnologie weitgehend Einigkeit zu bestehen. Dies gilt sogar auf institutioneller Ebene: Die Society for Ethnomusicology nimmt in Positionspapieren regelmäßig kritisch Stellung zu aktuellen allgemeinpolitischen Themen, etwa zur vergangenen Präsidentschaftswahl in den USA.

Forschungsströmungen wie die Post-Colonial-Studies oder die Genderforschung haben aber nicht nur die Musikethnologie fest im Griff, sondern wirken – insbesondere im englischsprachigen Ausland – auch in die historische und systematische Musikwissenschaft hinein. Und trotzdem würde ich als (sicherlich überspitzte) Hypothese in den Raum stellen, dass es eine strukturelle Teilung des Fachs Musikwissenschaft gibt: Auf der einen Seite steht die Partei der Musikhistoriker*innen, die tendenziell dem Neutralitäts- und Objektivitätspostulat das Wort reden, und auf der anderen Seite stehen die Musikforscher*innen, die sich mit der Musik der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit beschäftigen, ihr eigenes Politischsein explizit Bejahen und es als zentrales Element ihres Forschens sehen.

Die Kernfrage der Diskussion um die politische Dimension unserer Disziplin ist aber die nach dem Gegenstand. Dass Musik politische Praxis ist und war, ist eine Binsenweisheit. Beim genaueren Hinsehen wird aber klar, dass es durchaus auch Bereiche gibt, in denen der Musik das Politischsein im engeren Sinn abgesprochen wird, und dass Konzepte wie das l’art pour l’art auch heute noch eine bemerkenswerte Wirkmächtigkeit entfalten. Musikwissenschaft beschäftigt sich in den Augen Vieler – anders als die Geschichtswissenschaften oder die Politikwissenschaft – „nur“ mittelbar mit Politik. Gerade im Bereich der historischen Musikwissenschaft, die im deutschsprachigen Raum stark von werk-, kompositions- und gattungsgeschichtlichen Paradigmen geprägt ist, schein der Weg zum Politischen oft sehr weit. Ist die Edition einer Musikhandschrift aus dem 15. Jahrhundert tatsächlich unpolitisch? Damit sind wir bei einer Debatte angelangt, der gerade im Bereich der Philologie erbittert geführt wird und zu der sich Laurenz Lütteken aus musikwissenschaftlicher Perspektive kürzlich äußerte.

Das Problem wir schnell konkret, wenn es um das Einwerben von Forschungsgeldern geht. Um die Dichotomie von historischer Musikwissenschaft und Musikethnologie noch einmal aufzugreifen: Hat ein Projektantrag im Feld Musikethnologie Erfolgschancen, wenn er explizit unpolitisch formuliert ist oder sogar ausdrücklich dem politischen Common Sense in der Disziplin widerspricht? Und anders herum: Welche Widerstände erwarten historische Musikwissenschaftler*innen, wenn Sie ihre Anträge zu sehr politisch formulieren?

Wie wünsche ich mir das Fach Musikwissenschaft in zehn Jahren? Was sind die Gefahren einer politisierten Wissenschaft? Auch in demokratischen Systemen haben bestimmte Spielarten einer politischen Wissenschaft eher dystopischen Charakter. Wie funktioniert in einem Wissenschaftssystem, das nicht nur von Debatten um die Lesart bestimmter Textstellen, sondern auch von weltanschaulichen Richtungsstreits geprägt wird, die Besetzung von Stellen? Werden Professuren dann vergeben wie Posten am Supreme Court in den Vereinigten Staaten oder nach dem kaum rühmlicheren politischen Proporzverfahren des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland? Droht eine Wissenschaft, die sich zur Bühne für politische Debatten macht, ihre Unabhängigkeit zu verlieren?

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